Kistenweise Leseglück
Gleich versinkt die Welt. Nur Emmas Kopf schaut noch über den Rand der milchweißen Kunststoffkiste. Das Mädchen lässt sich in die Kissen zurückfallen und schlägt sein Buch auf. Draußen vor den Fenstern der OGS "Wunderwelt" in Oberhausen fällt der Regen senkrecht vom grautrüben Oktoberhimmel und verwandelt das Außengelände in eine Pfützenlandschaft. In Emmas Buch toben die Olchis zeitgleich durch den Matsch von Schmuddelfing. In der mobilen LeseOase, das ist die Box, in die sich die Drittklässlerin zurückgezogen hat, ist Emma beides - ganz bei sich und voll dabei.
"Ich staune immer wieder, wie intensiv die Kinder abtauchen", sagt Benedikt Jochheim, der als Leiter der OGS den Einsatz und die Wirkung der Kisten live mitbekommt. Die Wunderwelt hat seit vier Monaten drei mobile LeseOasen. "Inseln", findet der Pädagoge und berichtet, mit welchem Elan sie die Mädchen und Jungen "in den Hof, unter die Bäume, auf die Wiese und vors Spielgerüst tragen" oder, an einem Regentag wie heute, einen Platz im Haus ansteuern. Der wuselige Alltag mit rund 130 anderen Kindern, die sich den Offenen Ganztag teilen, lässt sie unbeeindruckt. Als entwickle die unscheinbare Aufbewahrungsbox aus dem Baumarkt mit einer lesenden Person "an Bord" ungeahnte Fähigkeiten, bilde etwa eine unsichtbare Kuppel wie bei einer Taucherglocke. Schon ist Emmas Kopf ganz hinter dem Buch verschwunden.
Benedikt Jochheim hat das Projekt "LeseOasen - Leseförderung im Ganztag", das die Kinderrechtsorganisation Save the Children Deutschland zusammen mit der Postbank als Partner ausschreibt, über einen Kollegen kennengelernt. "Der hat schon eine LeseOase an seiner OGS. In Oberhausen reden wir miteinander", erzählt er augenzwinkernd. Ein Austausch, der nachwirkte. So sehr ihn die Idee des lesefreundlichen Raumes begeistert habe, so schnell sei ihm klar gewesen, sagt er, dass die Wunderwelt keinen eigenen Raum dafür hat. Der Platz ist knapp, alle Zimmer sind verplant. Der "Raum", mit dem die Einrichtung punktet, ist das wunderbar weitläufige Außengelände. Dieses war mal ein Fußballfeld, ehe der Containerbau an der Stirnseite des Grundstücks emporwuchs. Dass es an diesem Nachmittag von Pfützen überzogen ist, schmälert den Charakter der Stadtoase nicht. So empfinden es auch die Kinder. "Wenn es nicht regnet und ich eine Kiste kriegen kann, gehe ich damit raus auf die Wiese", verrät der neunjährige Ali, "denn draußen…". Er stockt und blickt sehnsüchtig durch die Scheibe. Seine Mitschülerin Sare tritt neben ihn. "…draußen ist die Luft so frisch und gut", vollendet sie den Satz. Ali dreht den Kopf zu ihr, überlegt kurz, nickt dann zufrieden. Benedikt Jochheim sagt: "Mir war klar, wenn eine LeseOase kommt, dann soll sie keine Grenzen im Sinne von Wänden und einer Tür haben, sondern beweglich sein und mit den Kindern mitgehen. Die Kinder definieren ihren Raum."
Die Idee für die Kisten hatten die Mädchen und Jungen in der so genannten Gruppenzeit, einem partizipativen Angebot der OGS, das jeder Jahrgang wie ein Schüler*innenparlament durchführt. "Von dort stammt auch der Vorschlag, die Boxen mit Window-Colour-Bildern zu bekleben. Die Motive sind Ergebnisse eines Malwettbewerbs", beschreibt Jochheims Kollegin Sylvia van Essen. Sie hängt gerade ein Schild an den Anmeldetresen des Ganztagsbereichs: "Toniebox hat Pause" steht darauf, darunter klebt das Bild einer solchen. Aus den Fördermitteln des LeseOasen-Projekts hat die OGS ihr Exemplar kaufen können, "das haben sich die Kinder gewünscht, genau wie die Kisten und die Sofas". Sofas im Plural? Eins steht im Foyer der Wunderwelt, das tiefblaue Leise-Sofa, dessen hohe Lehne die Geräusche hinter seinem weichen Rücken hervorragend dimmt und den Kindern eine geschützte Nische zum Lesen bietet, wenngleich nicht ganz so ortsunabhängig wie die Kisten. Weitere Sofas sind aber nirgends zu sehen. Sylvia van Essen erklärt: "Das zweite müsste jeden Tag geliefert werden." Ihr Tonfall verrät, sie ist ähnlich gespannt wie die Kinder. "Aufstellen wollen wir es in der Küche, dort gibt es einen Bereich, in dem keine Esstische stehen. Trotzdem kommen alle Kinder daran vorbei, wenn sie Mittagessen gehen, und werden so auf das Angebot aufmerksam." Wenn sie es nicht längst sind, wie das mit einem Tischtuch abgedeckte Bücherregal beweist, in dem Sylvia van Essen die Titel für die lesebezogenen Aktivitäten mit den Kindern deponiert hat: Es übt magische Anziehung auf die zweiten und dritten Klassen aus. In die Umsetzung des Leseförderangebots gehen wollen van Essen und ihre Kollegin Alexandra Nehring, sobald das neue Sofa steht.
Drei Grundschulen mit Offenem Ganztag in Trägerschaft des Oberhausener Kinder- und Jugendwerks "Kurbel" haben sich erfolgreich im Projekt "LeseOasen" beworben. Derart raumflexibel ausgefallen sind die Ergebnisse nur an der Wunderwelt. Dass sich die Kinder wohlfühlen, ist nicht zuletzt ihrem besonnenen Umgang mit dem Angebot abzulesen: Kein Schubsen, kein Rangeln um die Plätze in den Kisten oder auf dem Leise-Sofa, respektvoller Abstand, sobald sich ein Kind dort niedergelassen hat, keine Überredungsversuche, sich noch mit in die Kiste zu quetschen oder über die Sofalehne zu fläzen. "Je beliebter die Boxen sind, desto sorgfältiger gehen die Kinder damit um", hat Benedikt Jochheim beobachtet. Wandern die Mädchen und Jungen indes damit auf die Wiese, aus den Augen, aus dem Sinn der anderen, "hat das pädagogische Team ein Auge darauf, dass niemand vergeblich wartet und jeder mal abtauchen darf", ergänzt Sylvia van Essen. Das, betonen sie und ihr Kollege, sei aber der einzige Punkt, an dem die Erwachsenen der OGS Wunderwelt den Raum eingrenzten. "Weil es wichtig ist, dass, wenn Kinder ihren Wunsch nach einer Ruheinsel im Schulalltag äußern, sie gehört werden."
Emma hat heute ihren lesefreundlichen Ort für sich. Ali und Sare ziehen das Leise-Sofa vor. Die Kiste ist, solange es draußen regnet, für sie weniger attraktiv. "Zuhause lese ich auch", verrät Ali noch, ehe er sich ins Buch vertieft, "am liebsten im Bett. Das ist so gemütlich wie die LeseOase". Sare murmelt versonnen "aber nicht an der frischen Luft". Dann ist auch sie aus der Wunderwelt der Schule in die Wunderwelt der Bücher entschlüpft.